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Aus dem Bildband 'Olga Okuneva. Malerei. Grafik', 2014:
- I.W. Buschuchina. Einführung
- A.M. Dubjanski. Die Welt Indiens mit den Augen Olga Okunevas

 
 
 

Olga Okuneva. Malerei. Grafik, 2014

Lass mich
Kurz verreisen,
Und ich schenke dir
Ein Gedicht des Lebens!

N. Gopi

Eine Serie grafischer Arbeiten Olga Okunevas trägt den Titel 'Der Weg an den Ozean'. Für Ausstellungen werden sie zu einem langen Band – einem Weg verbunden, woraufhin sich vor dem Betrachter ein Bild entfaltet, auf dem es viel Gesehenes, Erlebtes und Verstandenes gibt.

Mit der Zeit hat sich die Serie in eine Bildreihe mit offener Handlung verwandelt, die der Künstlerin die Möglichkeit gibt, zum Thema zurückzukehren und jedes Mal etwas Neues hinzuzufügen.

 
Olga Okuneva, 'Three Portraits of a Woman', 2016, Öl auf Leinwand, 90 x 70 cm

Das Wichtigste ist, dass dieser kreative Prozess ihr nicht erlaubt, vom gewählten Weg abzukommen, sondern sie auf der Suche nach Vollkommenheit an den Ozean führt.

Olga Okuneva wurde im Provinzstädtchen Otradny im Gebiet Kuibyschew, Russland, geboren. Noch als kleines Mädchen zog sie nach Orenburg, wo sie eine Kunstschule besuchte. Gegen den Willen ihrer Eltern schrieb sie sich an der Orenburger Kunstfachschule ein und setzte später ihr Studium an der Staatlichen Akademie für Kunst und Design von Charkow in der Fachrichtung Grafik fort. Sie traf selbst ihre Wahl und ging ihren eigenen Weg.

Viele von uns begegnen auf ihrem Lebensweg Menschen, die für ihre Persönlichkeit prägend sind. Die Berührung mit deren geistiger Sphäre kann ein starker Impuls für die eigene Entwicklung sein.

Olga Okuneva lernte während ihres Studiums den großartigen Grafiker Stanislaw Kossenkow kennen. Der Mann besaß neben einer außergewöhnlichen künstlerischen Begabung auch pädagogisches Talent. Olga suchte ihn immer wieder in Belgorod auf, um ihm Skizzen, Illustrationen und Zeichnungen zu zeigen; sie trank Tee mit ihm und hörte sich Geschichten aus seinem Leben und über andere Künstler an. Wenn sie dann nach Hause kam, begriff sie, dass er die ganze Zeit von ihren Arbeiten gesprochen, von ihr erzählt und ihr die Aufgabe gestellt hatte, 'unbedingt eine Idee auszudrücken, eine Botschaft zu vermitteln und ein künstlerisches Bild zu schaffen'.

Sofort nach der Hochschule arbeitete sie in Senesch, dem Haus der Kunst der UdSSR, und in der Tscheljuskinskaja, dem Haus der Russischen Grafik. Sie galten als hohe Schule für junge Künstler. Dort versammelten sich die besten kreativen Köpfe Russlands. Okuneva besaß keine Druckwerkstatt und arbeitete in der Tscheljuskinskaja viele Monate lang an Grafikserien, versuchte sich in der Lithographie, Monotypie - in allen nur erdenklichen Techniken. Olga hatte Glück: Sie gehörte jener letzten Generation von Künstlern an, für die diese Einrichtung Kreativwerkstatt und Versuchslabor zugleich war. In den 90er Jahren kam die Wende, und vieles änderte sich. Okuneva reichte eine Saison in der Tscheljuskinskaja und eine in Senesch, um ihren Weg zu finden, um ihre eigene Kunst auf den Weg zu bringen.

Ihre erste Liebe galt der Radierung. Olga hatte sie sich nicht ausgesucht. Sie war ihr, noch auf der Akademie, einfach passiert. Die Radiertechnik entsprach sehr genau dem emotionalen Zustand der jungen Künstlerin. Es ist eine elitäre Technik, die alle Gefühle und Zustände zwischenmenschlicher Beziehungen abzubilden imstande ist, die Zeit anzuhalten und den gegenwärtigen Augenblick festzuhalten vermag. Die Radiertechnik ermöglicht feine, weiche, aber auch explosive, expressive Arbeiten, die skizzenhaft bleiben oder zur Vollendung gebrachte Bilder sein können. Es bereitete ihr größtes Vergnügen, den Radierfarben Ausdruckskraft und Noblesse, monochrome oder farbenreiche Harmonien und eine reiche Vielfalt an Schattierungen zu entlocken. Die Radierung ist eine Technik für Einzelgänger. Im Unterschied zur Lithographie gibt es keine Abhängigkeit vom Drucker. Für eine derart selbstgenügsame Persönlichkeit wie Okuneva war dieser Umstand durchaus von Bedeutung.

Die Radierung brachte den Zauber in ihr Leben. Die Radierung ist eine Technik der vielen Schritte, und je länger du mit der Metallplatte arbeitest, umso weiter entfernst du dich von der ursprünglichen Idee. Es bleibt immer ein Überraschungsmoment aufgrund der Diskrepanz zwischen dem, was du auf der Platte gemacht hast, und dem Druckbild auf dem Papier. In dem Augenblick, wo du den ersten Abdruck machst und das Blatt aufhebst, wartest du gespannt auf das Ergebnis deiner Arbeit. Das Gefühl, das der Künstler in diesem Augenblick erlebt, ist unvergleichlich.

Olga arbeitete wie besessen, wie im Rausch. In kürzester Zeit entstanden die Serien: 'Der Zirkus ist da' (1989), 'Die Ankunft der Vögel' (1989), 'Spaziergang im Park' (1990), 'Blick aus dem Fenster' (1992) und 'Farbträume' (1993). Ihre Welt im Russland der 90er Jahre, während der Perestroika, einer Zeit schmerzhafter sozialer Veränderungen, war unsicher, verletzlich, krankhaft zerbrechlich, doch von dem Wunsch getragen, ein Fenster aufzustoßen und frei wie ein Vogel zu sein, sich aufzulösen und die eigene Phantasie zu leben.

Die Radierung hielt sie in ihrem Bann, ließ ihr keine Zeit für anderes. Diese eifrige Hingabe und dieser Respekt vor einer Technik trugen Früchte. Okuneva nahm immer öfter an Ausstellungen teil. Die Kritik wurde auf sie aufmerksam und sie gewann ihr eigenes Publikum. Im Jahre 1990 wurde sie in den Russischen Künstlerverband aufgenommen. Mit nur 39 Jahren erhielt Olga Okuneva die hohe Auszeichnung 'Verdiente Künstlerin Russlands” und zählte damit zu den jüngsten Trägern dieses Titels.

Das Gefühl des Zaubers begleitete ihre Arbeit lange Zeit. Doch dann lernte Olga die technischen Kunstgriffe souverän beherrschen und wusste hundert Schritte im Voraus, wie das Ergebnis aussehen wird.

Die Zeichnung war immer ihre Stärke. Ihre Kohle-, Buntstift- und Rötelzeichnungen erhielten in der Schul- und Studienzeit immer Bestnoten und kamen als Vorbilder für andere ins Lehrmittelkabinett. Im Freien angefertigte Landschaftsbilder interessierten Olga bis dahin nur wenig. Neue farbenfrohe Eindrücke brachte das Plein Air in Spanien.

Die Arbeit im Freien während eines Spanienaufenthalts kann als eine Periode der Weiterentwicklung der Zeichnung gesehen werden, die zuvor nur eine zweitrangige, untergeordnete Rolle gespielt hatte. Die Zeichnung rückte an die erste Stelle ihrer Kunst, als sie die Welt zu bereisen und ihre Arbeiten in vielen Ländern auszustellen begann. Für den Wechsel von Land zu Land und für Reiseeindrücke erwiesen sich simple Utensilien, wie jederzeit verfügbare Buntstifte und Papier, am geeignetsten.

In ihren Buntstiftzeichnungen ist der Strich genauso scharf und wiedererkennbar wie in der Radierung, kommt in geraden, klaren Linien zu liegen und formt. Die Bewegungen sind schnell, in ihnen liegt ein besonderer Okunev’scher Rhythmus. Die Farbe des Stiftes wechselt, doch der Rhythmus bleibt der gleiche. Eine Farbe legt sich über die andere, manchmal kommt eine dritte, vierte oder fünfte hinzu, doch es entsteht kein dichter Fleck, sondern vielmehr eine lumineszierende Unterlage für das künftige Bild. In diesem Spiel der Linien ist sie absolut frei, artistisch und virtuos. Mit Leichtigkeit verbindet sie die Härte und Exaktheit rascher Schraffur mit einer weichen, leichten, einzelnen Linie, variiert den Druck und verwischt. Das ist keine oberflächliche Effekthascherei – hinter dem Ganzen steckt eine solide Ausbildung zur Zeichnerin und handwerkliches Können. Es ist ein Glückszustand, Macht über das Material zu verspüren. Wenn du dich in die Arbeit vertiefst und siehst, wie etwas gelingt, dann führt dich die Arbeit selbst und du willst nicht aufhören.

In ihren Buntstift-Studien hält sie neue Eindrücke und Ideen fest, drückt ihre Persönlichkeit aus. Okuneva verwendet sehr viel Zeit auf die Freilichtzeichnung und ringt um ihre Vollkommenheit. Ihre Zeichnung besitzt eine eigenständige Bedeutung, ist in sich selbst wertvoll. Gleich, wo sie sich gerade aufhält – in Spanien oder Österreich, Russland oder Indien – auf dem Blatt ist stets ein Baum, ein Haus, ein Fenster, ein Boot oder ein Vogel zu sehen, nur das Licht und die Form sind immer anders. Die Künstlerin ist auf der Suche nach dem Ursprünglichen und Unveränderlichen. Von der Vielfalt zieht es sie zum Ganzen, was sie liebt.

Der Baum ist das, was ein Kind als erstes zeichnet, aus dem umgebenden Chaos intuitiv auswählt. Für Okuneva ist DER BAUM eines der stärksten Symbole des Lebens, sehr inhaltsreich und in der Lage, alles auszudrücken. Das Bild vom heiligen Baum, der Baum als Vogelhaus, Bäume als Kulissen für eine Geschichte aus dem Leben der Menschen … Die Stadt ist ein Zuhause, das Zuhause bist du. Symbole waren in ihrer Kunst immer gegenwärtig. Sie kommen in ihren Werken vor, sie schafft sie selbst oder greift auf traditionelle und bekannte zurück. Mit der Zeit begriff Olga, dass sie es mit 'Archetypen' zu tun hat, die eine unpersönliche Objektivität besitzen und eine tiefe Schicht der menschlichen Psyche darstellen. Das Wesen des mythologischen Denkens zu verstehen halfen ihr die Forschungen von K.G. Jung. Sein Symbolismus und seine Idee von den gemeinsamen Archetypen im menschlichen Bewusstsein entsprechen dem Bild und Verständnis Olga Okunevas von der Welt und erklären Vieles in ihrer Kunst.

In den Farbzeichnungen ist deutlich ein Umschwung in der Wahrnehmung der Künstlerin zu spüren: vom Bewusstwerden der widersprüchlichen Wirklichkeit hin zu einer toleranten Akzeptanz der Welt. Ihre Bilder sind freundlich und positiv. Die Kokospalme erinnert an eine große blauschwarze exotische Blüte, die ihre großen Blätter weit zur Sonne hin öffnet. Sie fügt sich dem Wind, tanzt und kommt auf seinen Wunsch hin zum Stillstand. Oder der dickstämmige, sich mit seinen Wurzeln an der Erde festklammernde Baum, von den letzten Sonnenstrahlen überflutet und seine kahlen Äste einer menschlichen Behausung entgegenstreckend. Seine müden Äste haben mehrere Generationen von Menschen aufwachsen gesehen. Der Schatten – ein komplexes Spiel von Linien, ein Netz von Farben – verbindet, verflechtet und verdreht Bäume, Häuser und den Raum zu einer lebendigen Masse. Die Gedichtzeilen, die viele Arbeiten Okunevas begleiten, und ihre Signatur sind mit energischem Druck und in steiler Schrift ausgeführt – eine besondere Wortgrafik, die die gleiche Berechtigung besitzt, Teil ihres künstlerischen Schaffens zu sein wie die von ihr geschaffenen Bilder.

Die künstlerische Welt Olga Okunevas ist erfüllt von Farbe, Licht und Lebensenergie. Vor dem Betrachter tut sich ein mystisches Bild auf, durchdrungen von Hitze und jenem erstaunlichen Zustand der Luft, wenn sie mit Leben erfüllt wird durch die von der Erde aufsteigenden heißen Wellen, die zu einer flirrenden Fata Morgana verschmelzen. Die Luftströme verdecken wie hauchdünne Gaze, wie ein regenbogenfarbiger Vorhang ihr orientalisches Märchen vom einsamen, ewigen und heiligen Baum. All das ist vom Künstler beseelte Natur. Vom Motiv bis zum Bild verläuft ein Weg der Generalisierung. Der Künstler ist nicht auf der Suche nach einem Nachbau, sondern nach einer malerischen poetischen Entsprechung der Realität. Durch die emotionale Färbung ihrer stummen Helden bleibt Okuneva der konkreten Welt treu. Ihre Bäume sind Teil ihrer selbst und ihrer Stimmung, ihres inneren Zustandes im Augenblick der Schaffung einer Arbeit. Sie fühlt sich eins mit der Natur und das verleiht ihr eine unglaubliche Energie für das Thema und Vorwärtskommen.

Durch die Reisen nach Indien erlangte die Farbe in Olga Okunevas Kunst immer mehr an Bedeutung. Zunächst experimentierte sie in ihren Radierungen mit Farbe. Dann nahm die Malerei die dominierende Position ein. Olga legte am Beginn ihres Schaffensweges ihre künstlerischen Vorlieben fest und kehrt immer wieder zu den sie bewegenden Themen und Kompositionen zurück, wobei sie eine immer exaktere Bildsprache zu finden versucht. Sie hat neue Ziele und Wege zur Erreichung des Gewünschten entdeckt.

Mit Indien ist das Hauptkapitel im Leben Okunevas verbunden. 1994 schuf sie eine Serie von Farbradierungen zum indischen Epos 'Mahabharata', die nicht nur von Kollegen eine hohe Bewertung erfuhren, sondern unter Experten für indische Kultur Begeisterung auslösten. Es hieß, die Künstlerin habe 'die der indischen Mythologie zugrundeliegenden Prinzipien und die künstlerischen Traditionen und die in ihren Symbolen verschlüsselten Informationen subtil erfasst und eine wunderbare Balance gefunden zwischen den philologischen und ethnografischen Daten und den antiken Kunstdenkmälern'. Angesichts solcher Rezensionen ist es schwer zu glauben, dass 'Mahabharata' vor Olgas erster Indienreise entstand.

Ihre erste Einzelausstellung in Indien fand 1996 im Museum für Moderne Kunst in Bhopal statt. Heute ist Okuneva in dem Land, das sie als ihr 'Paradies' bezeichnet, bekannt. Sie freut sich über jede neue Reise. Olga hat in Indien einen Lieblingsort – eine Bio-Farm im Dschungel, die ihren Freunden gehört. Sie haben einen Garten angelegt, in dem sie alle Pflanzen sammeln, die in diesem Land wachsen. Ihr 'Brunnen' (2010) und ihr 'Stillleben mit Papaya' (2010) entstanden dort wie viele andere Arbeiten, in denen die 'indische' Farbharmonie zu spüren ist. Sie entstanden nicht in der Hektik des Alltags, sondern in Eintracht mit sich selbst und der ganzen Welt, in Augenblicken schöpferischen Elans und der Inspiration.

Sehr wichtig für sie als Künstlerin ist der Augenblick der Berührung des Materials. Es macht einen großen Unterschied, ob du eine Nadel auf Metall führst, auf Stein oder Papier zeichnest, die Leinwand mit dem Pinsel berührst oder die Farben mit der Spachtel aufträgst. Solange Olga mit ihren Radierungen beschäftigt war, fielen ihr Federzeichnungen schwer, da sie ständig das Papier durchlöcherte und zerriss. Ihre Hand als Grafikerin war an die Arbeit mit der Nadel gewöhnt und berührte eine weiche Unterlage mit dem gleich großen Druck. Eine reiche Palette an taktilen Gefühlen schenkt ihr die Malerei, da sie anstelle des Pinsels häufig die Hand als künstlerisches Werkzeug verwendet, um spezielle Effekte zu erzielen.

Sehr viel hängt bei ihr von der Tageszeit ab. Die liebste Zeit ist ihr der frühe Morgen, wenn sie mit einer Tasse Kaffee auf den Balkon treten und den Tag begrüßen kann. Im späteren Verlauf können Probleme auftreten, doch der Tagesbeginn, die erste Stunde schenken ihr die besten Minuten ihres Lebens, einen klaren Kopf, Konzentration und die Möglichkeit, in ihrem Atelier in Amsterdam ruhig arbeiten zu können. Die letzten Jahre lebt Olga in Holland, in der Heimat ihrer Lieblingsmaler – des großen Rembrandts und Van Goghs.

In ihrer Wohnung hat sie große nach Norden ausgerichtete Fenster. Viel Licht, das auf die neuen Ölbilder fällt. Das Morgenlicht in einer nördlichen Hauptstadt ist ein besonderes.

Geboren und zur Künstlerin wurde sie in Russland. Ihre Liebe gilt Indien. Wenn sie lange verreist ist, möchte sie in ihr holländisches Atelier zurückkehren. Ihre Kunst gehört allen und spricht alle an. Sie gleicht ihrem geliebten Baum, dessen Wurzeln in der Erde stecken und dessen Wipfel und Zweige dem Wind, der Luft, dem Himmel und der Sonne gehören.

Du gehst einen Teil des Weges, lebst ein Stück des Lebens und begreifst den Wert eines jeden Tages. Der Weg an den Ozean ist weit, doch nun ist er von der Künstlerin mit einem Gefühl der Dankbarkeit für das Leben erleuchtet, und nicht weil die Welt sich zum Bessern gewandt hat, sondern wegen des Strebens nach Harmonie, des Wunsches, schaffen und wirken zu wollen. Olga Okuneva ist eingeweiht in das Geheimnis der Farben, Fakturen und Linien und konzentriert auf die Suche nach Wahrheit und Offenbarungen. Sie steht über den neuen und neuesten Moden und Strömungen um sie herum. Nach Erlangen einer Losgelöstheit im Ausdruck und der freien Beherrschung unterschiedlichster Techniken und Materialien bleibt sie sich selbst, ihren Motiven, ihrem von großer Schöpferkraft geprägten künstlerischen Verständnis der Welt treu.


Irina Buschuchina
Kunsthistorikerin und Kunstkritikerin
Russland, 2013


Übersetzerin: A.M. Platzgummer. Große Teile (über 1/3) der Übersetzung wurden im Rahmen des Master-Kurses 'Fachübersetzung Kunst und Kultur” im WS 2014/15 am Institut für Translationswissenschaft der Univ. Innsbruck unter ihrer Leitung angefertigt. Teilnehmerinnen: Nataliya Bolshakova, Magdalena Hackl, Evgeniya Ignatova und Alexandra Mitterer.

 

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Die Welt Indiens mit den Augen Olga Okunevas

Moskau, 2013

Ich denke, es war kein Zufall, dass meine Freundschaft mit Olga Okuneva ihren Anfang in Indien nahm: ich beschäftige mich beruflich mit diesem Land, und für sie ist Indien Teil ihres künstlerischen Schicksals geworden. Ich kann mich erinnern, wie ich die Künstlerin aus Orenburg vor vielen Jahren in Madras traf, wo sie ihre Arbeiten ausstellte. Gemeinsam unternahmen wir eine kurze Autoreise in eine kleine tamilische Stadt, in der ein bekannter Tempel des Hindu-Gottes Murugan auf einem hohen Felsen steht. Olga und ich brauchten lange, um die steinernen Stufen hinaufzuklettern, wurden aber mit prächtigen Ausblicken auf Reisfelder und Kokos- und Bananenplantagen belohnt. Olga saß damals unweit des Tempels die längste Zeit reglos auf einem Stein.

Später erzählte sie mir, wie Indien in ihr Leben getreten war und wie sie an den Illustrationen zum altindischen Epos Mahabharata arbeitete. Als ich die Radierungen zu Gesicht bekam, war ich von ihrer Ausdruckskraft überwältigt. Die Gestalten der Helden und Götter sowie die Kampfszenen vereinten in sich Treue zum Detail und Freiheit der Komposition, das Statuenhafte der indischen Kunst und die Dynamik des indischen Tanzes. Sie waren ungewöhnlich schön, plastisch und reich an asiatischer Ornamentik. Die Intuition der russischen Künstlerin hatte auf erstaunliche Weise das Wesen der indischen Kultur getroffen. Auch später, als ich Bekanntschaft machte mit vielen anderen Radierungen, Aquarellen und Zeichnungen von Olga, kam mir dieser Gedanke wieder und wieder in den Sinn. Mir wurde klar, dass Indien ihre schöpferische Energie irgendwie speist und ihr zu neuen Ideen verhilft. Kein Wunder, dass Reisen in dieses Land für Olga Okuneva unentbehrlich geworden sind. Ganz besonders hingezogen fühlt sie sich zum indischen Süden, zu den Landesteilen Tamil Nadu und Kerala mit ihrer unverwechselbaren Natur wie Kultur. Sie sagte mir einmal, dass ihre gerade in diesen Regionen gewonnenen Eindrücke ihren ursprünglichen Vorstellungen von Indien am nächsten kämen.

Als Olga die alttamilische Dichtkunst kennen lernte, begeisterte sie sich für die Idee, die wichtigste Besonderheit der tamilischen Liebeslyrik – typische Themen, die verschiedene Situationen in den Beziehungen der Liebenden mit Landschaftstypen verknüpfen, darzustellen. So spielen sich beispielsweise ihre ersten Rendezvous in bewaldeten Bergen, Ehezerwürfnisse vor dem Hintergrund von Reisfeldern, der Trennungsschmerz am Meeresufer ab usw. Olga dachte dabei keineswegs an eine bloße Illustrierung von Gedichten. Der Zyklus von Collagen, inspiriert von der tamilischen Dichtung, ist ihre ureigene Reaktion darauf. Interessant ist, dass sich die von der Künstlerin handgeschriebenen Gedichttexte harmonisch in das Bildgeflecht einfügen. Es ist ihr zweifellos gelungen, die poetische Stimmung eines jeden der von ihr gewählten Gedichte einzufangen.

Damit begann vielleicht auch ihr Interesse an indischen Pflanzen, besonders Bäumen. Als sie aus der Dichtung oder möglicherweise auch aus unseren Gesprächen erfuhr, dass es im Altertum im Süden besondere heilige Bäume und Haine gab (und bis heute gibt), die die Lebenskraft eines Gottes oder Herrschers bewahrten, hatte Olga die Idee, diese darzustellen und ihre sakrale Bedeutung für die Inder wiederzugeben. Doch wie so oft in ihrer Kunst erfuhr die Idee eine weitere Entwicklung und das Thema Baum nahm eine viel größere Dimension an. Die Künstlerin wurde angezogen von Baum-Mythen und Baum-Symbolen - Baum des Lebens, Baum der Erkenntnis, Weihnachtsbaum -, die im mythologischen Weltbild eines jeden Volkes von so großer Bedeutung sind. So führte sie das Erlebnis Indien hinaus in die Weiten der Weltkultur.

Ich bin überzeugt, dass durch Olgas Anliegen, das Wesen der Dinge mit den einem Künstler zur Verfügung stehenden Mitteln zu ergründen, ein Zusammenhang hergestellt wird zwischen ihren Arbeiten und der indischen Weltsicht und den Grundlagen der Kultur dieses Landes. So sticht als eines der auffälligsten Merkmale ihres künstlerischen Stils die Vorliebe für Collagen hervor. Bereits in ihren frühen Arbeiten (und hier meine ich nicht nur die indische Thematik) sieht die Welt in ihrer künstlerischen Vorstellung aus wie die Summe aus mehreren Fragmenten, Details, verschiedenen Ebenen und Winkeln. Dieses ganze Kaleidoskop wird aber immer von einer Idee, einem Thema oder einer Stimmung zusammengehalten. Ein solches Weltbild entspricht durchaus der für das indische Denken typischen Vorstellung von der Einheit und Ganzheit der Welt, was sich insbesondere im berühmten indischen Prinzip von der Einheit in der Vielfalt ausdrückt.

Es kommt einem in den Sinn beim Anblick der Basreliefs des Stupas in Sanchi oder der Fresken von Adjanta, der Kampfszenen auf den Tempeln von Belur und Halebidu oder auch der Volkskunst von Odischa. Die Welt präsentiert sich dort in einer Vielzahl ihrer Erscheinungen und gleichzeitig als etwas Ganzes, Unerschütterliches und Ewiges. Mir scheint, dass dies in allen Arbeiten von Olga Okuneva zum Vorschein kommt, insbesondere in ihrem Zyklus von Buntstiftzeichnungen, wo sie das Erscheinungsbild des Landes in kurzen Momenten seines Seins festhält. In jeder Zeichnung ist es anders – bald geheimnisvoll und sogar mystisch, bald lyrisch und nachdenklich, bald fröhlich und bunt.
An dieses ewige Indien gemahnen mich stets die weisen und traurigen Augen der weißen Tigerin, die in Olgas bezaubernder Farbradierung durch den Dschungel schleicht.

 

A.M. Dubjanski

Dozent am Institut für Indische Philologie an der Fakultät für die Länder Asiens und Afrikas der Staatlichen Lomonossow-Universität Moskau, Dr. phil. promov.

 

Die Übersetzung wurde im Rahmen des Master-Kurses 'Fachübersetzung Kunst und Kultur' im WS 2014/15 am Institut für Translationswissenschaft der Univ. Innsbruck unter Leitung von Mag. A.M. Platzgummer angefertigt. Teilnehmerinnen: Nataliya Bolshakova, Magdalena Hackl, Evgeniya Ignatova und Alexandra Mitterer.

 

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